Essay

, geschrieben im Zusammenhang mit meinem Studium der Soziologie an der Universität Bielefeld in der Übung zur Vorlesung Grundbegriffe der Soziologie bei Prof. Dr. André Kieserling: als PDF


Einleitung

Personen versuchen von sich selbst ein bestimmtes Bild gegenüber einem Dritten zu zeichnen. Dies soll das Gegenüber dazu veranlassen, möglichst so zu handeln, wie die Person dies erhofft oder zumindest zu einer positiven Darstellung führen, die einen vorteilhaften sozialen Tausch begünstigt (vgl. Blau 1968: 452). Dabei wird die Person versuchen einer ihr in dieser Situation zugeschriebenen Rolle gerecht zu werden (soziale Fassade) und gleichzeitig eine Verbindung zu sich als kohärente Person durch Mimik, Gestik, usw. (persönliche Fassade) herzustellen (vgl. Goffman 1969: 23 f.). Übermittelte Informationen sollen den Empfänger von bestimmten Eigenschaften, Einstellungen oder Status überzeugen und im besten Falle wünschenswerte Reaktionen hervorrufen. Als Informationsquellen können das Verhalten, Auftreten oder an Rollen geknüpfte Normen sein (vgl. a.a.O.: 5). Viele dieser Quellen können von der einzelnen Person bewusst beeinflusst werden. „Die Ausdrucksmöglichkeit des Einzelnen (und damit in seiner Fähigkeit, Eindrücke hervorzurufen) scheint zwei grundlegend verschiedene Arten von Zeichengebung in sich zu schließen: der Ausdruck, den er sich selbst gibt, und der Ausdruck, den er ausstrahlt“ (a.a.O.: 6). Ob dieses Ausdruckshandeln überzeugt (und damit eine gewünschte positive Sanktionierung [vgl. Dahrendorf 1969: 903] einsetzt), hängt insbesondere davon ab, ob es die in eine Rolle gesteckte Erwartungen erfüllen kann.

Personen beherbergen oft eine ganze Reihe von Rollen mit unterschiedlichen Erwartungen. Dies kann zu Konflikten führen, wenn an eine Rolle sich widersprechende Erwartungen geknüpft sind (Intra-Rollenkonflikt) oder mehrere sich gegenseitig widersprechende Rollen auf eine Person entfallen (Inter-Rollenkonflikt) (vgl. ebd.). Letztgenannter Konflikt kann dadurch umgangen werden, dass der Protagonist erst gar nicht in die Verlegenheit gerät, mehrere Rollen gleichzeitig ausfüllen zu müssen, da er sie räumlich oder zeitlich voneinander trennt. „Diese Rollentrennung kann durch eine Publikumstrennung erleichtert werden, so dass diejenigen, die in einem der Haupt-Rollensätze eines Individuums in Erscheinung treten, das in einem anderen nicht tun; dadurch berücksichtigen sie, dass das Individuum widersprüchliche Eigenschaften besitzt“ (Goffman 1973: 101).

Im Folgenden wird nun der Frage nachgegangen, inwiefern hilfsbedürftige Menschen (hier: Menschen mit körperlichen Behinderungen) Kontrolle über ihre Selbstdarstellung haben, wodurch diese eingeschränkt wird und welche Mechanismen ihnen zur Verfügung stehen, um sie zu schützen.

Hilfsbedürftige Menschen und ihre Selbstdarstellungsmöglichkeiten

Ausgangslage

Menschen mit Behinderungen sind oftmals auf Hilfe von anderen Personen angewiesen. Diese Hilfe variiert je nach Person und Bedarf in ihrer Art, Dauer und Regelmäßigkeit. Nicht selten ist der Bedarf an Hilfe oder Unterstützung so hoch, dass eine nahezu 24-stündige Anwesenheit von Hilfspersonen benötigt wird. Je nach Ausgestaltung und Ort der Hilfeleistung kann die Zahl der an der Hilfe beteiligten Personen unterschiedlich sein: von kaum wechselnden Schichten in kleinen Teams bis hin zu stark fluktuierendem Hilfspersonal in großen Behinderteneinrichtungen (vgl. Kotsch 2012: 31). Diesen unterschiedlichen Ausgestaltungen ist aber die Tatsache gemein, dass die hilfsbedürftige Person unter ständiger Beobachtung steht. Dabei ist mit Beobachtung zu verstehen, das eine stark hilfsbedürftige Person in annähernd allen Lebenssituationen Hilfe benötigt und insofern eine Hilfsperson immer anwesend ist und Handlungen, sowie Kommunikation der hilfsbedürftigen Person wahrnehmen kann. Problematisch ist das insbesondere deshalb, weil die hilfsbedürftige Person immer die Rolle des Betreuten oder Assistenznehmers[1] innehat, auch dann, wenn sie gerade primär eine andere Rolle einnimmt oder einzunehmen hätte. Daraus resultierende Inter-Rollenkonflikte sind vorprogrammiert. Wenn bspw. die hilfsbedürftige Person gegenüber einem Dritten die Nichterfüllung von ihm auferlegten Aufgaben mit einer zu hohen Arbeitsbelastung statt mit dem wahren Grund des Müßiggangs rechtfertigt, kann zwar die Selbstdarstellung als fleißiger Arbeitnehmer ggü. dem Dritten aufrechterhalten werden, gleichzeitig kann aber das Bild einer ehrlichen oder aufrechten Person ggü. der Hilfsperson leiden. Natürlich kann sich die hilfsbedürftige Person auch anders verhalten. Meist muss sie aber entscheiden, welche Selbstdarstellung für sie gerade Priorität hat.

Eingeschränkte Möglichkeiten der Selbstdarstellung

Es wird schnell klar, dass hilfsbedürftige Personen damit ständig, wie es Goffman nennt, auf einer Vorderbühne spielen. Andersgesagt: Ihnen fehlt gegenüber der Hilfsperson eine Hinterbühne, auf der sie die zuvor zur Aufrechterhaltung einer bestimmten Selbstdarstellung unterdrückten Verhaltensweisen offenbaren können und die Anspannung aus dem Vorspielen abfallen kann (vgl. Goffman 1969: 23 f., 99 f.).

Auch eine Trennung von Publikumskreisen ist problematisch, da wie oben ausgeführt eine Hilfsperson nahezu immer anwesend ist. Diese erlebt die hilfsbedürftige Person in all seinen Rollen, wie z.B. als Familienmitglied, Arbeitnehmer oder Vereinsmitglied. Es sollte nicht vergessen werden, dass vielen hilfsbedürftigen Menschen nicht das gesamte Ausdrucksreportoire zur Verfügung steht. Mimik, Gestik und selbst einfachste Kommunikation können schon aus körperlichen Gründen eingeschränkt sein. Zu beachten gilt auch, dass ihnen ggfs. das Wissen um die Existenz und Bedeutung von Zeichen bestimmter Gruppen fehlt, da ihnen der Zugang zu Teilen der Gesellschaft verwehrt bleiben (vgl. Wansing 2005: 66 f., Luhmann 1994: 41).

Nicht nur stehen ihnen damit weniger Mittel zur Selbstdarstellung zur Verfügung, sondern sie haben auch nur eine bedingte Kontrolle über diese. Deutlich wird dies am ehesten am Beispiel der körperlichen Erscheinung, die zu den wichtigsten nonverbalen Äußerungsformen gehört (Leary, 1996). Zwar haben alle Menschen nur eine bedingte Macht über die Gestalt ihres biologischen Körpers, gerade bei Menschen mit (körperlichen) Behinderungen sind die Folgen aber stärker und schwieriger zu kompensieren. Cloerkes fasst die Wirkung auf andere Menschen unter dem Begriff originäre Reaktionen zusammen, für die eine sichtbare Behinderung von der Norm abweicht und zu einer kognitiven Dissonanz führt, welche am Ende ablehnende Reaktionen hervorruft (2014: 128). Auch das Herrichten von Frisuren, Anziehen von Kleidern oder das Schminken wird vielmals nicht selbst, sondern durch Hilfsperson ausgeführt und entzieht sich zumindest zu einem Teil der Kontrolle und Bestimmung der eigenen Person.[2] Nicht zuletzt ist aber auch die Hilfsperson selbst Teil der Selbstdarstellung. Die hilfsbedürftige Person tritt quasi im Doppel auf, ähnlich wie beim gemeinsamen Auftritt in einer Partnerschaft, können Handlungen und Interaktionen der Hilfsperson auf die eigentliche Person zurückfallen. Erscheint beispielsweise die Person zu einem offiziellen Anlass mit einem unpassend gekleideten Helfer, wird dies auch der hilfsbedürftigen Person zugerechnet. Sie hätte sicherstellen können oder müssen, dass der Helfer nicht auffällig erscheint. Gleichzeitig kann schon die alleinige Anwesenheit einer Hilfsperson dazu führen, dass die eigentliche Person nicht mehr als erste Anlaufstelle der Interaktion wahrgenommen wird, da für viele Menschen das Vorhandensein einer Hilfsperson die Vermutung begründet, dass die hilfsbedürftige Person gar nicht ernst zu nehmen ist.[3] Das Gegenüber bezieht die Hilfsperson mit in die Bewertung der Darstellung ein. Die eigentliche Person hat aber auf diesen Teil der Darstellung nur begrenzte Möglichkeiten der Einflussnahme.

Mechanismen zum Schutz der Selbstdarstellung

Zum Schutz der Selbstdarstellung bieten sich folgende Mechanismen an.

– Trennung der Publikumskreise: Auch wenn es, wie oben ausgeführt, schwierig ist eine Trennung der Publikumskreise herzustellen, so kann versucht werden das gleichzeitige Spielen vor mehreren Kreisen auf ein Minimum zu beschränken. Zumindest in Situationen in denen nicht unmittelbar eine Hilfe benötigt wird, kann eine räumliche Trennung mit der Hilfsperson forciert werden. Ebenso kann versucht werden bestimmte Handlungen, Personenkonstellationen und Kommunikation nur mit bestimmten Hilfspersonen durchzuführen, sodass die gesamte Informationsfülle nicht allen Hilfspersonen zur Verfügung steht und damit für bestimmte Situationen ggü. einem Teil der Hilfspersonen eine Hinterbühne eingerichtet wird.

– Auffallende Distanzierung: Da auch die Hilfsperson, das sichtbare Abweichen von der Norm und die oft einhergehende abwertende Zuschreibung zur Gruppe der Behinderten, die so vermutlich nicht existiert, die Selbstdarstellung gefährdet, wird sich von diesen Umständen und den Klischeevorstellungen deutlich distanziert.

– Umlenkung der Aufmerksamkeit auf beeinflussbare Bereiche der Selbstdarstellung: Die Bereiche der Selbstdarstellung, die selbst ausgestrahlt und beeinflusst werden, werden in den Vordergrund gestellt. Dies können Zeichen von Gruppenzugehörigkeiten, politischen Ansichten oder materialistischem Status sein. Sie sollen die ggfs. negativen, aber unbeeinflussbaren Ausdrücke überlagern.

 

Fazit

Hilfsbedürftigen Menschen und insbesondere Menschen mit (körperlichen) Behinderungen werden schon aufgrund der Tatsache ihrer Abweichung von der Norm der ersten Möglichkeit zur Darstellung ihrer Selbst beraubt (vgl. Goffman 1969: 14). Darüber hinaus zeigt sich, dass ihnen generell Möglichkeiten der Selbstdarstellung nicht zur Verfügung stehen, diese eingeschränkt sind oder sie darüber nicht vollständig alleine verfügen können. Die dargestellten Mechanismen in Kapitel 2.3 dieses Essays sind mit Vorsicht zu genießen. Keine Beobachtung geschah systematisch und beruht auf einer kleinen Anzahl von Gesprächen mit Betroffenen. Ergeben hat sich die Frage, ob nicht hilfsbedürftige Personen ihre Selbstdarstellung in Bereiche verlagern, in denen sie selbst nicht hilfsbedürftig und / oder nicht als solche erkennbar sind, so z.B. im Internet und sozialen Medien.

Literaturangaben

Blau, P.M., 1968: Social Exchange. S. 452 in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 7. New York: MacMillan & Free Press

Cloekes, G., 2014: Die Problematik widersprüchlicher Normen in der sozialen Reaktion auf Behinderte. S. 121-139 in: Behinderung, Soziologie und gesellschaftliche Erfahrung, Wiesbaden: Springer VS

Dahrendorf, R., 1969: Rolle und Rollentheorie. S. 902-904 in: W. Bernsdorf, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart: Ferdinand Enke

Eiermann, N., Häußler, M., Helfferich, C., 2000: Live, Leben und Interessen vertreten – Frauen mit Behinderung. Lebenssituationen, Bedarfslagen und Interessensvertretung von Frauen mit Körper- und Sinnesbehinderungen. Als: Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Band 183, Stuttgart: Kohlhammer

Goffman, E., 1969: Wir alle spielen Theater. München: Piper

Goffman, E., 1973: Interaktion: Spaß am Spiel / Rollendistanz. München: Piper

Kotsch, L., 2012: Assistenzinteraktion. Wiesbaden: Springer VS

Kastl, J., 2010: Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden: Springer VS

Leary, M., 1996: Self-presentation: Impression management and interpersonal behaviour. Madison, WI: Brown and Benchmark.

Luhmann, N., 1994: Inklusion und Exklusion. In: H. Berding, Nationales Bewusstsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Wansing, G., 2005: Teilhabe an der Gesellschaft. Menschen mit Behinderung zwischen Inklusion und Exklusion. Wiesbaden: Springer VS

[1] Zur Begrifflichkeit des Assistenznehmers vgl. Kastl 2010: 27 f.

[2] Sehbehinderte und Blinde müssen sich beispielsweise beim Kleiden und Herrichten auf die Aussagen ihrer Hilfspersonen verlassen. In der Motorik Beeinträchtigte müssen sich von Hilfspersonen schminken oder frisieren lassen.

[3] “Sie wurden ungefragt geduzt oder angefasst, ignoriert oder einfach nicht für ,voll’ genommen, unverhohlen angestarrt oder gar direkt beschimpft” – Aussage von zwei Drittel von Frauen mit Behinderungen zu Diskriminierungserfahrungen (Eiermann et al. 2000: 120)

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