Wie oft plant Ihr eigentlich so Eure „Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“? Und ist es überhaupt erstrebenswert, an dieser Gesellschaft teilzuhaben?

Diesen provokanten Fragen liegt eine ernsthafte Problematik zugrunde. Sie hat mit der Systematik der Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderungen zu tun. Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Hilfen, die behinderte Menschen oftmals vom Staat erhalten.
Einerseits sind dies sogenannte existenzsichernde Leistungen. Sie richten sich größtenteils nach denselben Regeln wie für Nicht-Behinderte und sollen grundlegendste Bedürfnisse befriedigen, für die der Empfänger gerade selbst nicht aufkommen kann. Das sind z.B. Kosten für Unterkunft, Essen, Kleidung usw.
Andererseits gibt es Fachleistungen, die aus der Idee heraus geboren wurden, dass Menschen mit Behinderungen bestimmte Bedürfnisse haben und Hilfen benötigen, die sich ausschließlich aus der Behinderung begründen. Sie sollen also Nachteile, die aufgrund einer Behinderung entstehen, ausgleichen.

In der Praxis ist es allerdings so, dass natürlich auch diese sogenannten Fachleistungen existenziell für Menschen mit Behinderungen sind. Immer da, wo Leistungen zur medizinischen Behandlung oder Pflege nicht ausreichen, um ein möglichst selbstständiges Leben zu führen, wird auf Leistungen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege zurückgegriffen. Diese müssen aber immer einen spezifischen Zweck erfüllen. Übergreifend ist von der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft die Rede. Dummerweise besteht das Leben 24/7 die Woche aber nicht nur aus medizinisch-pflegerischen Tätigkeiten oder der sozialen Teilhabe in Arbeit, Bildung oder sozialer Kontaktpflege. Als jemand der auf 24h-Assistenz angewiesen ist, benötige ich aber jene auch dann, wenn ich ein Wochenende auf der Couch verbringe.

Welchen Leistungszweck erfülle ich in dieser Zeit? Und was machen jene Personen, die einfach nicht genug Zwecke finden, um die Leistungen zu erhalten, die sie brauchen. Menschen also, die weder einem zeitfressenden Ehrenamt, Arbeit oder Bildungstätigkeit nachgehen oder diesem auch bewusst nicht nachgehen wollen. Überspitzt gefragt: Gehört nicht auch das selbstbestimmte Nicht-Teilnehmen an der Gesellschaft zur Autonomie dazu? Darf ich nicht selbstbestimmt ein Eigenbrötler sein?

Leider verlieren so der Begriff und das Konzept von Teilhabe in der derzeitigen Systematik seinen emanzipatorischen Aspekt. Teilhabeziele, die es zu erreichen oder zu erhalten gilt, werden zur existenziellen Ressource. Sie zu formulieren und zu besitzen ist ein wertvolles Gut auf dem Weg zu einem möglichst selbstbestimmten und autonomen Leben. Und doch nimmt die Bürokratie mit ihren Wirksamkeitskontrollen und Zweckbestimmungen einen Teil der zu erlangen Autonomie gleich wieder weg.

Ist es nicht an der Zeit, endlich ein Unterstützungssystem zu schaffen, dass zur Gewährung nicht die Frage stellt, was man als Mensch mit Behinderung mit seiner Zeit anfangen will? Ist es nicht irrelevant, ob mir meine Assistenzperson in der Universität, im Kinobesuch mit einem Freund, auf der Toilette oder beim Faulenzen auf der Terrasse behilflich ist? Wenn wir aber die jetzige Systematik nur haben, damit sich Behörden und Ämter Kosten besser teilen können, dann gehört das radikal geändert. Inklusion fordert die Anpassung der Gesellschaft an die Bedürfnisse seiner Minderheiten. Das gilt auch für die Bürokratie und Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderungen!


Dieser Kolumne erschien zuerst im Newsletter von Raul Krauthausen.
CC BY-NC-ND 2.0 Jono Kane

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