Fehlende Daten
Vor einigen Tagen schrieb ich einen Beitrag zum Thema Behinderung. Dabei suchte ich nach Daten, die eine subjektive Wahrnehmung von mir bestätigen oder widerlegen konnte. Aber selbst nach langer Sucherei fand ich einfach keine passende Statistik. Nicht einmal annähernd wurde ich fündig.
Das hat mir keine Ruhe gelassen. Also suchte ich weiter nach Statistiken rund um das Thema Behinderung. Erstaunlicherweise gibt es dazu, zumindest im „freien Netz“ kaum brauchbares. Klar, hier und da gibt es einige grundlegende Zahlen wie Arbeitslosenstatistik, Menschen mit Behinderungen in Werkstätten usw. Ganz selten findet man auch einmal eine Statistik zu einem spezifischen Thema, diese sind aber selten und noch seltener öffentlich zugänglich.
Dabei wäre es sehr wichtig, mehr Daten über die Lebenssituation und die Meinung von Menschen mit Behinderungen zu haben. Klar: Für uns Betroffene sind viele Entscheidungen die wir treffen oder Lebenssituationen völlig klar und in persönlichen Gesprächen stellt sich meist heraus, dass es eine hohe Schnittmenge gibt. Aber ohne wissenschaftliche Erhebung sind es dann doch nur subjektive Ansichten. Für eine Argumentation gegenüber der Politik, zur Nutzung in publizistischen Arbeiten oder Forderung für Verbesserungen genügt das nicht. Was uns fehlt sind objektive, wissenschaftliche Daten.
Lasst uns das ändern!
Viele von uns haben sich dank des Internets und sozialer Medien ein recht beschauliches Netzwerk aufgebaut. So gibt es in Facebook dutzende Gruppen mit aller Art Menschen mit Behinderungen, die sich zu unterschiedlichsten Themen austauschen. Warum nutzen wir diese (und weitere) Netzwerke nicht, um eine hohe Anzahl an Datensätze zu erzeugen?
Ich stelle mir konkrete eine gemeinnützige Gesellschaft vor, deren Aufgabe es ist, Teilnehmer für Umfragen zu generieren und Wissenschaftlern, Betroffenenverbände und Journalisten zur Verfügung zu stellen. Dabei könnten alle profitieren:
- Die „Behinderten“-Community: Sie könnte mehr objektive Daten und Statistiken für ihre Argumentation nutzen. Sei es zur politischen Beweisführung oder zur Erkennung von Marktpotenzialien für eigene Unternehmungen
- Journalisten, Behörden, Wissenschaftler: Selbst für Forschende ist es häufig sehr schwierig, eine hohe Anzahl von Menschen mit Behinderungen für Umfragen zu finden. Man stelle sich eine Forschungsarbeit zum Thema persönliche Assistenz vor: Der heutige Aufwand, an willige Teilnehmer heranzutreten ist immens. Aber auch Behörden und Journalisten könnten zu aktuellen oder interessanten Themen schnell und vor allem günstig an Ergebnisse kommen.
- Betroffene und Teilnehmer: Nicht nur das Betroffene von den Vorteilen für die gesamte Community profitieren, sie selbst könnten auch auf anderen Ebenen vielfältig profitieren. So könnten sie zustimmen, dass ihre Daten an Wissenschaftler und Techniker für Versuchs- und Prototypenstudien zur Verfügung gestellt würden. Oder sie lassen sich individuelle Newsletter mit neuen Entwicklungen für ihre individuellen Bedürfnisse zukommen. Heute muss man dafür noch immer auf extra Messen fahren oder hoffen, dass einem das eigene Netzwerk oder Fachärzte / Sanitätshäuser früh genug auf neue Produkte hinweisen. Und natürlich kann auch ein Prämiensystem eingebaut werden, sodass die Teilnahme an Umfragen finanziell vergütet wird.
- Unternehmen: Für viele der Unternehmen, die spezielle Hilfsmittel oder andere Produkte speziell für Menschen mit Behinderungen anbieten, ist es schwierig die potenziellen Kunden direkt anzusprechen. Einerseits weil sie selbst nicht selten nur kleine oder mittelständige Strukturen aufweisen, andererseits weil ihre Produkte so spezifisch sind, dass kein Werbemarkt ihre Kunden „erfasst“ hat. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als entweder in die breite Masse zu streuen, oder über Dritte wie Sanitätshauser, Fachärzte oder Verbände / Zeitschriften zu werben. Hier könnten sie ihre potenziellen Kunden direkt ansprechen.
Selbstverständlich muss zu allen Aktivitäten das Einverständnis der Teilnehmenden herangezogen werden und die Daten nicht an Dritte weitergegeben werden. Die erhobenen Daten müssen direkt ausgewertet und nur die absoluten Ergebnisse weitergereicht werden.
Klar ist auch, dass eine solche Gesellschaft gemeinnützig ist. Sprich: Ziel ist es die Kosten zu decken um Umfragen so günstig wie möglich zu halten und sollten doch Gewinne erzielt werden, so sollen diese der Community zu fließen.
Fazit
Ich glaube, dass momentan viele Synergien dadurch verloren gehen, dass Menschen mit Behinderungen nicht über eine zentrale Plattform angesprochen werden können. Klar, es gibt Plattformen für einzelne Behinderungen oder Problemstellungen. Dies sind aber meist solche Nischen, die nur ein kleiner Teil überhaupt wahrnimmt. Zumal es auch zwischen unterschiedlichsten Behinderungen Merkmale mit Schnittmengen gibt. Eine Plattform, durch die unterschiedlichste Daten von Menschen mit Behinderungen erhoben werden können, lässt in erster Linie die Betroffenen selbst profitieren. Höchste Zeit also, dass wir das umsetzen.
Oder was meint ihr? Teilt mir doch bitte Eure Gedanken zu dem Thema mit.
Intessante Idee – ich frage mich gerade wie es finanziert werden soll und wie die Nutzung erhobener Daten sicher nur bei behinderten Menschen bzw. ihnen zu Gute kommend sicher gestellt werden kann.
Mal abgesehen von all den praktischen Fragestellungen (wie was wo erhoben wird) und natürlich der Frage wer sich beteiligen darf an dem Unterfangen.
Vielleicht gibt’s ja bald dazu Überlegungen?
Viele Grüße
Hannah
Zur Finanzierung: Wenn Wissenschaftler, Journalisten oder Verbände eine Umfrage durchführen möchten, müssen sie dafür ein Entgelt bezahlen. Der Betrag sollte keine Gewinnabsicht haben, sondern nur die Kosten decken, die durch die Bereitstellung der Plattform und etwaige Prämienzahlung an Teilnehmer anfallen.
Damit klärt sich auch, welche Fragestellungen es geben kann. Solange es Fragestellungen im Zusammenhang mit Menschen mit Behinderungen, deren Lebenssituation oder verwandten Problemen sind, sind sie zulässig und können gestellt werden. Dabei kann man die Fragesteller entweder durch das designen der Umfragen unterstützen oder einfach „nur“ die Umfrageteilnehmer bereitstellen.
Dafür sind Anfangs nur einige grundlegende Daten der Teilnehmer zu erheben um sie dann an entsprechenden Umfragen teilnehmen zu lassen. Solche Daten könnten z.B. Art der Behinderung, erhaltene Hilfeleistungen, Wohnform und allgemeine personenbezogene Daten wie Geschlecht, Alter, Familienstand sein.
Ganz konkret gibt es dafür auch Software, die das ermöglicht: Benutzer registrieren sich, füllen ein Datenblatt aus und bekommen die Umfragen angezeigt, für dessen Fragestellung sie die entsprechenden Merkmale besitzen.
LG,
Constantin
Erstmal vorweg, finde ich es gut und wichtig, dass Du unseren Stimmen mehr Gewicht verleihen willst. Auch eine gute Idee finde ich, dafür die gesellschaftlich akzeptierten Formen zu nutzen: Wissenschaftler sind ja die neuen Priester 😉 und quantitativen Daten wird gern immer noch mehr Wert beigemessen als qualitativen.
Ich habe allerdings auch Anmerkungen, hoffentlich hilfreicher Art:
Plattformen sind derzeit ein Trend für alle Möglichen Thematiken und Ansinnen.
Wirklich schwierig ist hierbei, die Plattform erfolgreich zu machen – größere Bandbreite an Themen/verschiedenen Behinderungen schön und gut, aber Du brauchst auch ausreichend Unterstützende und Teilnehmer.
Das erfordert gutes Netzwerken und eine gewisse Präsenz nach außen.
Damit Betroffene sowie Unternehmen/Wissenschaftler teilnehmen/sich registrieren können, müssen sie zunächst 1. von der Plattform erfahren und 2. sie auch interessant finden. Du brauchst also ein gutes Konzept und eine ausreichende Außenwirkung.
Die Frage ist, in wie weit Menschen mit Behinderungen ihre Daten hergeben wollen, Du musst da ein vertrauensvolles Gegenüber sein. Und in wie weit Du sie ermächtigen willst – denn je basisdemokratischer, desto mehr Diskussionen 😉 und desto mehr Zeit braucht das. Nicht zuletzt ist es ja notwendigerweise eine sehr heterogene Gruppe von Behinderten, da Du von den Spezialplattformen weg willst, und das kann wegen der schieren Masse an Informationen zu einem schlechten Informationsangebot führen (mangels Überblick/Zeit alles gleich gut auszuarbeiten). Das Zeitproblem sowie die Heterogenität der Interessen kann eventuell mit einer guten Seitenstruktur gelöst werden, die Raum für Teilnahme lässt und Informationen (auch zu etablierten Spezialwebsiten) liefert, ohne chaotisch zu werden.
Weiterhin muss so eine große Plattform ja betrieben werden. Wenn sie dabei erfolgreich sein & bleiben soll, machst Du das besser nicht allein. Das erfordert Mitspieler mit guten Ressourcen (Vernetzung, Zeit, Geld, Medienpräsenz), die müssen erstmal gewonnen werden. Eine gewisse Schwierigkeit hierbei sehe ich darin, dafür zu sorgen, dass die Mitspieler/Fürsprecher eben nicht dazu beitragen, dass es eine stigmatisierende „Die armen Behinderten, tu was für die gute Sache!“-Geschichte wird.
Denn damit könntest Du wiederum eine Deiner Hauptzielgruppe, die Behinderten selbst, verlieren. Dahingehend positiv finde ich Deinen Ansatz zur Ermächtigung, nämlich den Stimmen der Behinderten mehr Gewicht zu verleihen.
Insgesamt sehe ich hier viel Arbeit drin stecken, wenn Du das wirklich erfolgreich hochziehen willst. Zunächst solltest Du erstmal das Feld sondieren und mit so vielen Mitspielern wie auch Vertretern Deiner Zielgruppen (Behinderte, Unternehmen, Wissenschaftlern) sprechen, die Idee weiter ausbauen und konkretisieren. Dieser Blogbeitrag ist ja schonmal ein erster Schritt dazu.
Eventuell könntest Du im Folgenden mit Studenten/Doktoranten/Professoren kollaborieren – die könnten für Dich erste Daten zum Markt und zu den behinderten Teilnehmern erheben, einen Überblick herstellen. Mit einem geschickt formulierten Thesisthema könnte Dir das mehrere wertvolle Ressourcen liefern: Zeit um Informationen für das Plattformkonzept zu sammeln, Zeit um wichtige Vernetzungspunkte herzustellen/herauszufinden (wichtige Namen, zB gibt es ja durchaus berühmte Behinderte, Förderprojekte zur Finanzierung etc). Nicht zuletzt würdest Du erste Kontakte in die wissenschaftliche Gemeinde herstellen, die Du ja anstrebst.
Eine weitere gute Anlaufstelle könnten Sportgruppen für Menschen mit Behinderungen sein. Da hast Du gleich mehrere Menschen auf einem Haufen, und Sport ist auch selbstermächtigend. Meine Erfahrung bei einem Uniprojekt zur Beinprothetik war allerdings, dass viele sich nicht gut damit fühlen, über ihre Behinderung zu sprechen und es ein sehr sensibles Thema war. Vielleicht lag es aber auch an mir als Gegenüber und am analogen Format. Ich bin selbst seit Geburt behindert, allerdings nur minimal – was ein großer Unterschied war zu denjenigen, die später im Leben Gliedmaßen verloren und/oder stärker eingeschränkt als ich waren. Meine Erfahrung zB mit Foren ist, dass Menschen auch gegenüber Unbekannten sehr offen sprechen.
Ich bin gespannt auf Dein weiteres Vorgehen 🙂 und wünsche viel Erfolg.
Herzlich,
Julia
Vielen lieben Dank für diesen konstruktiven Beitrag Julia!
In der Tat, in einem solchen Projekt würde viel Arbeit stecken und gesteckt werden müssen. Deswegen verstehe ich diesen Beitrag auch mehr als Brainstorming und vor allem um erste Meinungen, wie deine einzuholen.
An erster Stelle würde ich ein solches Projekt als Werkzeug für die „Community“ sehen. Wie du schon richtig schreibst wäre eine Herangehensweise nach dem Motto „WIR machen mal was für DIE Behinderten“ völlig falsch. Mein Ziel ist ja gerade, dass die Hoheit über das, was aus so einem Projekt und auch den Daten passiert in gewisser Weise innerhalb der Menschen mit Behinderungen selber bleibt und eher als Dienstleister nach außen agiert.
Problematisch sehe ich auch gerade den Bereich der Willigkeit zur Herausgabe von Daten an. Zum Glück sind viele Menschen sehr sensibel, was das Weitergeben von Daten angeht, wenn es offensichtlich ist. Deswegen müsste man das mein Meinung in zwei „Oberflächen“ aufteilen. Einerseits die „Vertriebs“-Ebene, die sich an Wissenschaftlicher, Verbände, und alle Interessenten für Umfrageteilnehmer und Daten richtet und andererseits die Plattform für die Teilnehmer selber.
Danke für den Hinweis mit einem ausgepfeilteren Thesispapier. Ein solches wäre wirklich Hilfreich um Anfangs herauszufinden, welchen Bedarf es auf der „Kunden“seite gibt und mit wem man kooperieren könnte. Aber wie gesagt: Ich möchte das noch nicht einmal Projekt nennen, weil ich mir nicht mal sicher bin, ob ich das Anfangen will und vor allem kann (Ressourcen [Zeit, Geld, …]).
Wir haben häufig das Problem, dass in diesem Bereich keine Daten vorliegen. Das hat auch mit der Geschichte zu tun und es gibt es Scheu diese Daten zu sammeln. Was den wenigsten bewusst ist: Gemäß Artikel 31 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind die Vertragsstaaten (also auch Deutschland) verpflichtet Daten zu sammeln und Statistiken anzulegen. Allerdings passiert das bisher noch nicht im ausreichendem Maße.