Wohin steuert die schulische Inklusion in Niedersachsen?

Der Niedersächsische Landkreistag, kurz NLT, ist ein gemeinsames Gremium aller niedersächsischen Landkreise und vertritt deren Interessen nach außen. Selbstverständlich positioniert sich der NLT auch zu einer der gesellschaftlichen Großprojekte dieses Jahrzehnts: der Inklusion.

In seiner Ausgabe vom April 2014 berichtet der NLT nun von seiner 74. Landkreisversammlung und veröffentlicht eine gemeinsame Erklärung zur schulischen Inklusion:

Gifhorner Erklärung

Gifhorner Erklärung zur schulischen Inklusion
vom 13. März 2014

Im März 2012 wurde im Niedersächsischen Landtag mit großer Mehrheit die Einführung einer inklusiven Beschulung an allgemeinbildenden Schulen zur Umsetzung des 2008 in Kraft getretenen Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention) beschlossen. Für die Kommunen als Schulträger, Träger der Schülerbeförderung sowie als Jugend- und Sozialhilfeträger stellen sich hierdurch große Herausforderungen, die bisher von ihnen weitgehend bewältigt wurden. Umsetzungsschwierigkeiten zeigen sich insbesondere an den Schulen, wo sich zum Teil noch nicht genügend vorbereitete Lehrerinnen und Lehrer überfordert sehen. Zudem fehlt es an ausreichendem pädagogischen wie auch Hilfspersonal. Um ihren Kindern eine inklusive Beschulung ermöglichen zu können, beantragen Eltern – zum Teil von der Landesschulbehörde in der Feststellung des Unterstützungsbedarfs geforderte – „Schulbegleiterinnen und -begleiter“ auf Basis des Sozial- und Jugendhilferechts.

I. Pädagogisches Gesamtkonzept erforderlich
Die Inklusion erfordert es die Schulen in die Lage zu versetzen, alle Schülerinnen und Schüler, auch die mit besonderem Unterstützungsbedarf durch entsprechendes Personal und die erforderlichen Unterrichtsmethoden in den Schulbetrieb zu integrieren. Die schulische Inklusion vorrangig durch eine individuelle Fürsorgeleistung im Rahmen von Einzelfallhilfen umzusetzen, ist fachlich wie sozialpolitisch der falsche Weg. Für die pädagogisch als auch finanziell notwendigen Unterstützungsleistungen steht das Land in der Verantwortung. Der Niedersächsische Landkreistag (NLT) erachtet ein Gesamtkonzept für dringend geboten.

II. Förderzentren
Zentrale Bedeutung ist aus kommunaler Sicht der Einrichtung bzw. Entwicklung der Förderzentren beizumessen. Hierzu müssen die Fragen nach Ausstattung, Trägerschaft und regionaler Verteilung mit Blick auf eine ortsnahe, direkte Unterstützung der inklusiven Schulen zeitnah geklärt werden. Alle Beteiligten benötigen eine verlässliche Planungsperspektive.

III. Wahlfreiheit nur bei qualifizierter Förderung einschränken
Die ersten Erfahrungen mit der konzeptionell noch nicht ausgereiften inklusiven Beschulung werfen die Frage auf, ob eine optimale Förderung aller Kinder in Regelschulen bei allen Arten sonderpädagogischen Förderbedarfs möglich ist. Erst wenn die Rahmenbedingungen eine zumindest gleichwertige Förderung in der inklusiven Schule gewährleisten, sollten weitere Förderschulbereiche aufgelöst werden.

IV. Kommunale Kosten zeitnah ausgleichen
Der NLT begrüßt, dass das Land für die mit der inklusiven Beschulung einhergehenden tatsächlichen Kosten den Grundsatz der Konnexität anerkennt. Hierzu werden zeitnah konkrete Vorschläge für eine rechtsverbindliche Finanzierung der Kosten der kommunalen Schulträger durch das Land erwartet. Soweit das Land nicht kurzfristig durch ein pädagogisches Konzept und eine verbesserte Ausstattung der Schulen für einen Rückgang der Integrationshelferinnen und -helfer sorgt, sind darüber hinaus auch deren Kosten vom Land zu übernehmen.

Beängstigend ist besonders der starke Ruf nach einem Rückgang der Integrationshelferinnen und -helfer. Grundsätzlich stimme ich dem NLT zu, wenn es darum geht, dass die Inklusion nur mit einem pädagogischen Gesamtkonzept gelingen kann, indem Integrationshelferinnen und -helfer selbstverständlich in die fachliche und pädagogische Arbeit in Klassenverbänden einbezogen werden. Ebenfalls kann ich bestätigen, dass es Situationen gibt, in denen ein Auskommen mit weniger Unterstützungspersonal möglich wäre, stünde ein Gesamtkonzept zur Verfügung. Meine große Befürchtung ist aber, dass durch eine Abschaffung des Individualrechts auf Einzelfallhilfen ein Sparmodell für Kommunen geschaffen werden soll, ohne vorrangig eine vernünftige pädagogische Arbeit zu gewährleisten. Im Zweifel muss es dem einzelnen Betroffenen möglich bleiben, das Recht auf eine individuelle Hilfe wahrzunehmen. Andernfalls wird es garantiert zu unterschiedlichen Sichtweisen hinsichtlich der benötigen Humanressource für Hilfen zwischen Betroffenen und Kostenträgern kommen.

Reinhard Fricke, Vorsitzender des Verbandes Sonderpädagogik Niedersachsen, sagt dazu zutreffend:

Entscheidend sei zudem, die Ressourcen intelligent einzusetzen. Derzeit geschehe dies ungesteuert und mit Blick auf die Intergrationshelfer sogar kontraproduktiv. Er rief dazu auf, das Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs zu überdenken.

Besonders dem Landrat des Kreises Peine, Franz Einhaus, ist zu danken, in dem er folgende wichtige Einschränkung hinsichtlich einer Reduzierung der Integrationshelferinnen und -helfer äußert:

Nach den bisherigen Erfahrungen sehe er keinen Sinn darin, dass sich in den Inklusionsklassen mehrere Erwachsene aufhalten würden, die nicht in ein pädagogisches Konzept eingebunden seien. Er forderte einen gesamtpädagogischen Ansatz statt Einzelfallhilfen, damit Inklusion aus stattfinde. Keinesfalls dürfe das Gegenteil dessen bewirkt werden.

Hinsichtlich der Integrationshelfer-Debatte ist damit festzustellen, dass sich der NLT insgesamt eher auf eine finanzielle Sicht eingeschossen hat, es aber einzelne Lichtblicke gibt.

Entschleunigung und Förderschulen

Viel interessanter ist aber die Debatte generell um Inklusion und um die Förderschulen im Speziellen.

MdL Försterling von der FDP sagt beispielsweise:

Landtagsabgeordneter Försterling sprach sich gegen eine Abschaffung der Förderschulen aus. […] Grundsätzlich dürfe die inklusive Beschulung derzeit nicht beschleunigt werden.

Dem widerspreche ich vehement! Abgesehen von einigen Förderschulen für schwer Mehrfachbehinderte, insbesondere für geistig Behinderte, die man durchaus vorhalten sollte, sehe ich keinen Grund für ein langfristiges Aufrechterhalten der Doppelstrukturen und Separation. Der damit außerdem ausgedrückte fehlender politische Wille zur Handlung im Themenbereich Inklusion ist absolut nicht mehr zeitgemäß und zeigt anschaulich, warum die FDP zurecht keine politische Verantwortung im Bildungsbereich von Niedersachsen hat.

Allerdings irritiert auch die Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, Johanne Modder, mit folgender Aussage:

[…] Sie betonte, dass seitens der Koalitionsfraktionen [SPD und B90/Die Grünen] lediglich an eine schrittweise Auflösung der Sprachförderklassen gedacht worden sei. Alle anderen Förderschulbereiche sollen erhalten bleiben.

Auch hier kann ich nicht nachvollziehen, warum man den Schritt zur regelmäßigen inklusiven Schulbildung nicht gehen möchte. Die Aufrechterhaltung der Doppelstrukturen ist kostenintensiv. Die darin gebundenen Ressourcen wären bei der inklusiven Bildungspolitik dringend nötig. Außerdem schafft man damit ein Angebot, was Eltern aufgrund der derzeit hinterherhinkenden Rahmenbedingungen in allgemeinbildenden Schulen gerne annehmen, wodurch aber automatisch der Anpassungsdruck an den allgemeinbildenden Schulen heruntergefahren wird.

Hildesheimer Resolution der SPD

Dies entspricht auch der Hildesheimer Resolution, die die SPD-Landtagsfraktion veröffentlichte und in der es u.A. heißt:

Die Förderschulen mit den Förderschwerpunkten „Geistige Entwicklung“, „Körperliche und motorische Entwicklung“, „Hören und Sehen“ können als Alternative zur inklusiven sonderpädagogischen Förderung weitergeführt werden. Der Elternwille entscheidet, wo das Kind unterrichtet werden soll.

Die bestehenden Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt „Emotionale und Soziale Entwicklung“ können grundsätzlich als Durchgangsschulen weitergeführt werden.

Die bislang zeitlich starr festgelegte Bildung von Schwerpunktschulen in den Förderschwerpunkten „Geistige Entwicklung“, „Körperliche und motorische Entwicklung“ sowie „Sehen und Hören“ nur bis zum 31. August 2018 soll auf Antrag des Schulträgers verlängert werden können, wenn dieser ein Inklusionskonzept zur örtlichen bzw. regionalen Schulentwicklung vorlegt.

Besonders auffällig und im übrigend deckungsgleich wie die Forderung des FDP-Abgeordneten Försterling, ist das Hinauszögern der absoluten Inklusionspflicht an niedersächsischen Schulen. Bisher sollte diese bis zum 31. August 2018 von den einzelnen Schulträgern erfolgen. Nun kann dies hinausgezögert werden, wenn ein regionales Inklusionskonzept vorgelegt wird. Wie stichhaltige diese sein müssen und wie lange die Verlängerung der Umsetzungspflicht dann maximal gelten soll, bleibt offen.

Fazit

Dem NLT scheint es, von Einzelpersonen abgesehen, fast ausschließlich um Kosten zu gehen, die Liberalen verhalten sich konservativer als so mancher CSUler und die Koalitionsfraktionen zögern die vollständige Umsetzung der Inklusion hinaus.

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