Ja, es stimmt. Viele behinderte Menschen nerven mich. Die Art und Weise mit der sie mit den Rahmenbedingungen und ihrer Situationen im Allgemeinen umgehen, halte ich für falsch. Es wird ein Wissen und eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, die wahrscheinlich selbst nahe Verwandte nur mit Schwierigkeiten erfüllen können. Statt den Versuch zu unternehmen, mit Freundlichkeit und Offenheit bestehende Vorurteile, Nichtwissen und vor allem Bequemlichkeit entgegenzutreten, baut man sich selbst als Aggressor auf um dem Gegenüber zu zeigen, wie wenig umsichtig oder einfach nur blind er durch den Alltag geht.

Ich werde hoffentlich nie zu den Menschen mit Behinderungen zählen, die sich schon in jungen Jahren aufführen, als seien sie die Seniorin, auf die bitte jeder und alles Rücksicht zu nehmen hat und vor allem in jeder Situation sofort zu antizipieren hat, wie man sich richtig verhält. Ich befürchte, dass dieses Verhalten auch eine Rolle in der Behindertenpolitik spielt.

These 1: Kleine Fortschritte in der Behindertenpolitik positiv verbreiten.

Gerade Fachpolitiker wie jene, die sich im behindertenpolitischen Bereich engagieren, sind noch immer im Kern Politiker, weil es für sie eine Herzensangelegenheit ist. Aber auch sie könnten nur dann wahre Veränderungen anstoßen, wenn sie in machtvollen Ämtern sind oder aber Entscheidungsträger überzeugen können. Dafür müssen sie beliebt sein, gewählt werden und der eigenen Partei(-führung) zeigen, dass ihr Bereich wichtig ist und dort Wähler zu gewinnen sind.
Blöd nur, wenn man es mit einer Lobbygruppe zu tun hat, die positive Veränderungen und Willensbekundungen zwar wohlwollend zur Kenntnis nimmt, aber nach Außen fast ausschließlich Defizite und Verschlechterungen anprangert oder als Antwort neue Forderungen stellt. Bei einer solchen Lobby ist für Politiker kein Blumentopf zu gewinnen. Entweder man macht zu wenig und es sei beschämend, dass erst jetzt Forderung X erfüllt wird oder aber man gehört zu jenen die nur Reden und nichts verändern. In jedem Fall steigt weder die eigene Beliebtheit noch kann man der eigenen Partei diesen Bereich als einen verkaufen, für den es sich zu kämpfen lohnt oder für den man einen anderen vernachlässigen sollte.

Es gehört zur Politik dazu, Prioritäten zu setzen. Selbstverständlich werden Projekte, mit denen man eine große Wählerschaft erreichen und möglichst viele Pluspunkt in der medialen Aufmerksamkeit sammeln kann, priorisiert. Beides spricht aber nicht besonders für behindertenpolitische Arbeit. Behindertenpolitik ist nun einmal ein Feld, das kostspielig und komplex ist. Dazu betreffen viele Forderungen immer nur einen Teil der Lobby „Behinderte“, auch wenn die Gesamtmasse vielleicht sogar lohnenswert erscheint. Zu allem Überfluss sind viele Organisationen und mediale Berichterstatter der Politik nicht gerade wohlgesonnen. Mögliche positive Berichterstattung über kleine Fortschritte wird durch ungeduldiges Drängen, dem Stellen weiterer Forderungen und kritisieren des zu zögerlichen Handelns ersetzt.

Mit Sicherheit ist das ein überzeichnetes Bild und es gibt genug Gründe, warum sich Verbände und Medien im behindertenpolitischen Bereich so verhalten. Aber gerade jeder Einzelne sollte sich öfter in die Lage von Politikern hineinversetzen und fragen, was aus politischen und taktischen Gründen dafür spricht, sich jenem Thema anzunehmen oder gar Kompromisse auf anderen Feldern einzugehen. Und zu guter Letzt müssen Politiker an der Wahlurne für ihren Einsatz belohnt werden. Wenn man der Meinung ist, das Behindertenpolitik ja nur einen Teil in der Entscheidungsfindung auszumachen hat, wirken sich Handlungen von Parteien in diesem Bereich nicht so stark aus. Nur wenn eine Partei Angst haben muss, mit einer falschen Einzelentscheidung auf einem Gebiet eine signifikante Masse von Menschen zu verlieren, ist das Themengebiet relevant. Es bräuchte also mehr Wechselwähler für die die behindertenpolitische Agenda einer Partei und ihre tatsächlichen Handlungen der wichtigste Gradmesser bei der Wahlentscheidung ist.

These 2: Maximale Forderungen stellen, minimale Ziele erreichen

Die meisten gesellschaftlichen Veränderungen können a) nicht per Gesetz verordnet werden und b) nicht in kurzen Zeitintervallen vollendet werden. Behinderte sind Extremfälle in der Gesellschaft. Das ist gar nicht negativ gemeint. Aber der Aufwand, der politisch und gesellschaftlich betrieben werden muss, um bestimmte Ziele für Behinderte zu erreichen, ist sehr hoch.
Das zeigt auch der Ausspruch des Bundesarbeitsministers Walter Arendt von 1974:

„Die Qualität des Lebens für die Behinderten in unserer Gesellschaft ist ein Spiegel der Qualität der Gesellschaft“.

Erst anhand von Extremsituationen und -beispielen können wir feststellen, wie sich eine Gesellschaft verhält. Das bewirkt aber, das der Umgang mit diesen „Rändern“, wie Walter Arendt schon sagte, die gesamte Gesellschaft wiederspiegelt. Wie aber oben schon geschrieben, kann man eine Gesellschaft nicht in kurzer Zeit und erst Recht nicht mit einem Gesetz verändern. Kleine, regelmäßige Schritte führen aber ans Ziel.

Das gilt auch für die Behindertenpolitik. Es ist richtig, Maximalforderungen zu stellen um ein klares Ziel vorzugeben, wohin sich die Gesellschaft zu entwickeln hat. Wenn sich aber eine Gelegenheit bietet um einen Teil seiner Forderungen umzusetzen, sollte man sie unbedingt ergreifen und nicht zu hoch pokern. Gerade bei Paradigmenwechseln reicht es für den Anfang, dieses Paradigma in einem Teilbereich umzusetzen. Wenn es sich dort etabliert hat, ist es viel einfacher, mit Ungleichbehandlungen und Ungerechtigkeiten zu argumentieren und zu überzeugen. Das gilt besonders in der Behindertenpolitik, in der es immer wieder Forderungen gibt, die für einen Teil der Behinderten absolute Priorität besitzen und für andere eher nicht. Wenn es aber am Ende dazu führt, dass eine einzelne, beschränkte Forderung einen echten Paradigmenwechsel einleitet, wird dies allen Behinderten früher oder später nützen. Das heißt: Auch wenn nicht alle Forderungen durchgesetzt werden oder einzelne Umsetzungen nur bedingt den eigenen Ansprüchen genügen, sind es Fortschritte, die akzeptiert werden sollten.

These 3: Forderungen konzentrieren, Zersplitterung stoppen

Wie ich oben schon gesagt habe, leidet die Behindertenpolitik an einer Fragmentierung. Es gibt viele verschiedene Interessensgruppen mit eigenen Forderungen und unterschiedlichster Priorisierung. Erschwerend dazu kommt, dass viele dieser Interessensgruppen nur einen sehr kleinen Unterstützer- / Betroffenenkreis repräsentieren. Die wenigen „gemeinsamen“ Forderungen die man hat, werden stiefmütterlich behandelt, weil man immerzu geneigt ist, die eigenen spezifischen Forderungen in den Mittelpunkt zu stellen. Die eigentlich große und relevante Masse an behindertenpolitischen Verbänden und Organisationen verteilt damit die eh schon geringe Aufmerksamkeit der Politik auf viele Forderungen. Das bisschen Aufmerksamkeit das dann irgendwo ankommt, ist nicht mehr in der Lage irgendetwas zu bewegen.

Es wäre mit Sicherheit effektiver, gemeinsam Forderungen zu stellen und vorzubringen, auch wenn man selber vielleicht nicht sonderlich davon profitiert. Ziel muss es sein, eine behindertenpolitische Agenda aufzustellen und diese Schritt für Schritt abzuarbeiten. Als Konsequenz würde das bedeuten, dass jede Interessensgruppe Kompromisse in der Priorisierung eingehen müsste, aber gleichzeitig eine viel größere Chance hätte, die gestellten Forderungen durchzusetzen, wenn man auf der Agenda steht. Viel wichtiger als das Wann, ist für viele betroffene Menschen das Ob. Überhaupt die Chance zu bekommen, etwas mit großen Druck verändern zu können, ist in meinen Augen höher zu bewerten, als das Hoffen auf unerwartete Besserung.
Frei nach dem Motto:

Proletarier aller Länder Menschen aller Behinderungen, vereinigt euch!

Disclaimer: Natürlich gibt es nichts dieses einheitliche Bild, was ich hier immer wieder zeichne. Es gibt viele Abstufungen und Schattierungen, sicher auch positive Beispiele. Ich bin mir selber nicht einmal sicher, ob die Thesen nicht zu gemäßigt sind. Daher würde ich mich über eine rege Diskussion freuen.
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