Personen auf Warnschildern – das bedeutet oft nichts Gutes. Zwei misslungene Kampagnen demonstrieren, wie Klischees auf dem Rücken von Menschen mit Behinderung transportiert werden.

Eine Behinderung zu haben, ist ein schweres Schicksal, welches Betroffene leiden lässt. So zumindest ein weit verbreitetes Vorurteil in unserer Gesellschaft, welches durch Medien und Kampagnen immer wieder Verbreitung findet.

Dabei entspricht das nur selten der Realität. Ein Leben mit einer Behinderung ist für viele Menschen nicht groß anders als für andere auch. Es hat seine Höhen und Tiefen, und zwischendurch regt man sich über die Nickeligkeiten des Alltags auf. Gerade die sind es für Menschen mit Behinderungen allerdings, die tatsächlich zur sprichwörtlichen Behinderung werden: kaputte Aufzüge, fehlende Untertitel oder diskriminierendes Verhalten.

Das Verhalten der Gesellschaft gegenüber Menschen, die vermeintlich allzeit Leid ertragen müssen oder aufgrund von Behinderungen in ihrem Wesen oder ihren Handlungen eingeschränkt sind, ist das wahre Problem – nicht die Behinderung selbst.
Mitleid, fehlende Vorstellungskraft von den Fähigkeiten behinderter Menschen oder soziale Isolation, weil Behinderte ja “dauerdepressiv” und “Spaßbremsen” sein müssen, das sind nur einige der wenigen, aber schwerwiegenden Folgen von Vorurteilen über Menschen mit Behinderungen. Nachgedacht wird allzu gern darüber, was die ganz bestimmt nicht können.

Deshalb ist es bedeutsam, wie Behinderungen in der Öffentlichkeit dargestellt werden. Schließlich schrieb der Soziologe Niklas Luhmann:

Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. […] Insgesamt aber dürfte der Beitrag aller massenmedialer Kommunikation eher darin liegen Voraussetzungen für weitere Kommunikation zu schaffen, die nicht eigens mitkommuniziert werden müssen.

Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. 2.erweiterte Auflage. Opladen

So gesehen, haben sich in diesen Tagen gleich zwei staatliche Stellen zum Transport von Botschaften entschlossen, die ein falsches Bild weiter verfestigen.

Das erste Beispiel spielt in Österreich: Das staatseigene Bahnunternehmen warnte vor den Gefahren an Bahngleisen mit dem Bild eines Rollstuhlfahrers mit der Beschriftung: “Lass dich nicht aufhalten – außer von Bahnschranken”. Dass der abgebildete junge Mann gar kein echter Rollstuhlfahrer war, sondern ein Model (Stichwort: disability faking), sei hier nur am Rande bemerkt.

Rollstuhlfahrer auf Bahnübergang. Text: Lass dich nicht aufhalten! Außer von Bahnübergangen.
Bei den Werbesujets handelt es sich um Fotomontagen.

Viel dramatischer aber sind die Botschaften und impliziten Vorurteile, gegen die behinderte Menschen stets ankämpfen müssen und in diesem Bild zum Vorschein treten:

  • Für das Vorhandensein von Menschen mit Behinderungen gibt es Verantwortliche.
    Du hast eine Behinderung? Durch einen selbstverschuldeten Unfall? Warum sollen wir als Gesellschaft uns also ändern? Du bist doch selber schuld!
  • Eine Behinderung zu haben ist schlecht.
    Seht her, welch’ schlimmes Leid euch ereilen kann! Eine Behinderung schreckt ab, ist leidvoll und bedauernswert. Erst ließ er sich nicht durch eine Bahnschranke aufhalten, und nun hält ihn seine Behinderung von den Sehnsüchten des Lebens ab.

Es ist nicht hilfreich, wenn staatliche Institutionen Menschen mit Behinderungen zur Erziehung der Gesellschaft als negatives Beispiel, ja gar als Warnung missbrauchen! Tenor:

Verhaltet euch richtig, damit ihr nicht so endet, wie die Behinderten.

Nicht nur in Österreich scheint man Gefallen daran zu finden, Menschen mit Behinderungen als wandelnde Warnhinweise in der Gesellschaft zu stigmatisieren.
Erst im letzten Monat stellte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer die neue Plakatkampagne “Runter vom Gas” vor, die zum sicheren Fahren beitragen soll. Die von Scholz & Friends kreierten Plakate sollen “an die schwerwiegenden Folgen, die Fehlverhalten im Straßenverkehr für jeden Verkehrsteilnehmer haben kann [erinnern]”, so die dazugehörige Pressemitteilung. Abgebildet ist etwa jemand mit einer Beinprothese, dazu die Beschriftung “Weil der andere zu schnell war”, oder ein Rollstuhlfahrer mit dem Text “Weil der andere ein Bier hatte”:

Prof. Dr. Walter Eichendorf lässt sich zitieren: “Viele Verkehrsopfer leben mit Schmerzen und Beeinträchtigungen, weil sich andere Verkehrsteilnehmer nicht an die Regeln gehalten haben.”

Das mag stimmen, ist aber in seiner Pauschalisierung einfach falsch. Was sagen dazu jene Beinprothesennutzer*innen und Rollstuhlfahrer*innen, bei denen keine*r zu schnell war oder ein Bier hatte?, Für die Behinderungen gewohnter Alltag sind und Prothesen sowie Rollstühle nicht nur normale Utensilien sondern Teil ihres Körpers, der eigenen Identität und Mittel zur Selbstbestimmung sind?

Es kommt noch doller: In einer begleitenden Online-Kampagne werden vier Unfallopfer porträtiert. Einiges scheint aus dem Einmaleins der Leidmedien für Beispiele von Klischees über behinderte Menschen abgeschrieben zu sein. Eine Andrea wird uns mit dem Satz vorgestellt: “Sport war ihr Leben. Doch nach einem Unfall sagten Ärzte: Andrea L. wird nie wieder gehen können – bis ein Wunder geschah.” Andrea sei ihre Lebensfreude ins Gesicht geschrieben und nach Monaten der qualvollen Reha kann sie ihren Rollstuhl für Gehversuche “hinter sich lassen”.

Dass Unfallopfer so empfinden ist verständlich. Weniger verständlich ist allerdings, wieso man dieses Bild vom Menschen mit Behinderung, die sich nahezu zwanghaft von seiner Behinderung und seinen Hilfsmitteln distanzieren wollen, transportieren muss. Es ist ein Grund, warum Menschen nach einer solchen lebensverändernden Situation nach Sinn und Halt suchen – weil in der Öffentlichkeit kein positives alternatives Bild von Behinderung existiert. 

Auch ein Kevin darf nicht fehlen: Nach einem Autounfall ist er querschnittsgelähmt. Erst verlassen ihn Freunde (was für Freunde waren das eigentlich?), dann seine langjährige Partnerin. Vielleicht verlassen ihn die Menschen wegen den hier gezeichneten Bildern, durch die sie keine gemeinsame aktive und frohe Zukunft in Menschen mit Behinderungen sehen? Kevin sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben. “Er igelt sich ein und ist auf andere angewiesen.” Aber er “fasst Mut und kämpft sich zurück in sein neues Leben.”

Besonders infam ist aber das Video “Laufen lernen”. Es zeigt zunächst die ersten Gehversuche eines Babys mit dem freudestrahlenden Gesicht seiner Mutter. Doch dann der Wendepunkt: Ein weiteres Fußpaar wird gezeigt, danach das schmerzverzerrte und heulend-krampfende Gesicht eines jungen Mannes. Eine Frau versucht ihn mit ernster Miene zu motivieren, dazu die Einblendung: “Niemand sollte zweimal im Leben laufen lernen müssen.” Tatsächlich sollte man diese Frage stellen, aber eher unter der Sichtweise, ob diese offensichtlich qualvollen Therapien nötig sind und nicht auch ein Leben im Rollstuhl lebenswert sein könnte.

Die Assoziationskette scheint klar definiert:

  • Behinderungen entstehen durch (selbst) verschuldetes Fehlverhalten,
  • verursachen Schmerzen
  • und Beeinträchtigungen und sind generell etwas, das wir als Gesellschaft um jeden Preis vermeiden sollten. 

Gravierende Folgen haben solche Perspektiven auf Behinderungen mitunter dann, wenn Gesetze verabschiedet werden, die Menschen mit Behinderungen schon vor Geburt verhindern sollen – wie vor Kurzem geschehen; weil ein Leben mit Behinderung wohl als unwert, zu teuer, aber jedenfalls als unerwünscht angesehen.

Statt Behinderungen als etwas von sich aus einschränkendes, qualvolles und schreckliches darzustellen, sollten wir Menschen mit Behinderungen als das präsentieren, was sie sind: als Nachbar*innen, Sportler*innen, Arbeitskolleg*innen, nervige Tanten und Onkel oder lustige Pausenclowns. Menschen mit Behinderungen aber als abschreckendes Beispiel zu missbrauchen, manifestiert ausschließlich soziale Ausgrenzung und falsche Vorurteile. Diese Stigmatisierungen schränken tatsächlich im Alltag ein – nicht die Behinderung selbst.

Wer tatsächlich etwas gegen Raser*innen hinterm Steuer machen will, lieber Herr Bundesverkehrsminister, der kann das auf vielerlei Art und Weise, aber gerade nicht mit Angst-Kampagnen, wie mehrere wissenschaftliche Erhebungen gezeigt haben (12).

Hier mal ein paar Vorschläge:

  • Generelles Tempolimit auf Autobahnen
  • Tempo 30 in Ortschaften
  • Bußgelderbemessung am Einkommen
  • Mehr Investition in Fahrrad- und ÖPNV-Infrastruktur
  • Werbekampagnen, welche die Täter*innen stigmatisieren, nicht Menschen mit Behinderungen

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Raul Krauthausen und erschien zunächst auf seinem Blog.

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