In wenigen Wochen ist es wieder soweit: Es darf gewählt werden. Die einen empfinden das als lästige Pflicht, für andere ist es Ausdruck ihrer politischen Haltung. Aber egal ob nun Stamm- oder überzeugter Nichtwähler, eines ist allen gemeinsam: Jeder hat das Recht zu wählen oder gewählt zu werden.

Jeder? Nicht ganz. Mehr als 85.000 Menschen mit Behinderungen ist es nicht erlaubt, das grundlegendste Recht in einem demokratischen Staat wahrzunehmen.

Die sogenannten Wahlrechtsausschlüsse betreffen überwiegend Menschen mit Behinderungen, die im Alltag rechtliche Unterstützung benötigen. Die Vielfalt der Beeinträchtigungsformen ist dabei groß, von Lernschwierigkeiten bis hin zu geistigen Behinderungen.

Begründet wird diese Diskriminierung damit, dass den Betroffenen die nötige Einsicht fehle, eine „vernünftige“ Wahlentscheidung zu treffen. Generell sei zudem das Missbrauchsrisiko zu hoch.

Angst vor Beeinflussung der Wähler

Nicht nur erinnert diese Argumentation verstörend deutlich an jene Diskussion in den Anfangszeiten der deutschen Demokratie, in der nicht wenige als Bedingung für das Wahlrecht eine bestimmte Bildung voraussetzen wollten, sondern stellt auch die Frage nach der vorauszusetzenden Kompetenz jedes einzelnen Wählers.

Wo aber beginnt die vernunftgetriebene Entscheidung, welche rationalen und irrationalen Gründe dürfen den Wähler verleiten und wie soll das überprüft werden?

Was genau unterscheidet denn den stereotypischen Erstwähler, der CDU wählt, weil Vater das auch schon immer getan hat, von Tante Emmelie, die zwar schon Anzeichen von Demenz zeigt, sich aber von der netten Dame mit Sonnenblume in der Innenstadt „überzeugen“ lässt, oder von einem Menschen mit geistiger Behinderung, der irgendwie die Plakate der FDP jetzt so toll modern findet?

Ist es nicht viel mehr die Befürchtung, man könne diese Personengruppe so einfach und arglistig beeinflussen, die ihren Ausschluss begründet? Abgesehen davon, dass ein Wahlverbot bei arglistiger Beeinflussung sowohl die Medienlandschaft als auch die Schreiberlinge von Wahlprogrammen vor schier unlösbare Herausforderungen stellen würde, findet doch schon längst eine parteienorganisierte Beeinflussung in viel größerem Maßstab statt.

Man schaue sich nur die freundliche Parteijugend von Jusos bist Julis an, die völlig „uneigennützig“ am Wahlsonntag Omi und Opi aus dem Pflegeheim zur Wahlurne fahren – auch dann, wenn es gar nicht die eigenen Großeltern sind.

Vereinte Nationen: Diskriminierungspraxis unterlassen

Wer hingegen Manipulationen beim Wahlgang selbst fürchtet, dem seien die unzähligen Berichte von Anomalien bei der allseits beliebten Briefwahl ans Herz gelegt. Immerhin war diese Art der Stimmabgabe im Jahr 2013 bereits für 24,3 % aller Stimmen verantwortlich.

Anstatt also pauschal bestimmten Minderheiten die Fähigkeit zum Treffen einer Wahlentscheidung abzusprechen, sollten wir lieber über die Art und Weise der Hilfestellung debattieren. Dabei scheint sich selbst die Politik nicht einig darüber zu sein, ob ein grundlegendes politisches Wissen zur Wahlentscheidung vonnöten ist.

Dokumentiert wird dieser Streit beispielhaft durch die Gründung der Landeszentrale für politische Bildung Niedersachsen, ihrer Abschaffung im Jahr 2004 und Wiedererrichtung 2017.

Im Übrigen findet diese Diskussion nicht im luftleeren Raum statt. Schon längst hätte die Politik handeln müssen. Das Grundgesetz kennt keine Unterscheidung im Wahlrecht, außer das Alter. Die Menschenrechtsverträge der UN, die Deutschland unterzeichnet hat, verpflichten sogar ausdrücklich und explizit, die derzeitige Diskriminierungspraxis zu unterlassen.

Selbst das vom Bundestag finanzierte „Deutsche Institut für Menschenrechte“ bemängelt die Ausschlüsse von Menschen mit Behinderungen bei der Bundestagswahl unmissverständlich als „diskriminierende und unverhältnismäßige Eingriffe in das menschenrechtlich und verfassungsrechtlich garantierte staatsbürgerliche Recht, zu wählen und gewählt zu werden.“ (Menschenrechtsbericht 2016, S. 120)

Wahlrecht für alle Menschen mit Behinderungen blockiert

Inzwischen erntet die deutsche Beharrlichkeit in dieser Sache auch Kopfschütteln im Ausland. Schon vor längerer Zeit haben sowohl Österreich, Italien, die Niederlande, Schweden und das Vereinigte Königreich, als auch Kroatien (2012) und Lettland (2013) das Wahlverbot für Menschen mit geistiger Behinderung aufgehoben.

Auch auf Länderebene bewegt sich etwas: Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein ermöglichten seit letztem Jahr erstmalig allen Menschen mit Behinderungen bei Landtagswahlen teilzunehmen.

Letzte Woche war dann eine interessante Parallele mit doch sehr unterschiedlichem Ausgang zu beobachten. Nachdem nun seit Jahren ein Gesetzesentwurf zur Ehe für alle im Bundestag vor sich hinsiechte, konnte durch die Abkehr der SPD vom strikten Koalitionszwang wenigstens diese Diskriminierung abgeschafft werden.

In derselben Woche wurde zum wiederholten Male ein Antrag für das Wahlrecht für alle Menschen mit Behinderungen durch Stimmen der großen Koalition blockiert.

Es stellt sich schon die Frage, ab wann eine Menschenrechtsverletzung ein parteiübergreifendes Vorgehen ermöglicht und wann nicht bzw. wie viel politisches Ungeschick und Fortune nötig ist um gravierende Einschränkungen von Menschenrechten abzuschaffen. Oder um es mit Marcel Schütz zu sagen: Politik wird gemacht, wo Stimmung auf Gelegenheit trifft.

Wie viel Stimmung brauchen wir?


Erschienen bei HuffingtonPost

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